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Ich und mein inneres Mädchen - Wie eine ungeschickte Annäherung zu einem magischen Moment mit ihr wurde

Voller Entschlossenheit nahm ich mein kleines Mädchen, das in etwa acht Jahre alt war, an die Hand und setzte einen ersten Schritt.

Dieses Mal wollte ich mein Anliegen durchziehen, dachte, dass wäre ich mir und meiner Kleinen schuldig. Meine Kleine ließ sich ein wenig ziehen. Ich spürte, dass sie nicht wirklich mitkommen wollte und versuchte sie aufzumuntern.

 

„Hey, wir beide machen das jetzt. Lass uns losgehen!“, forderte ich sie auf.

„Was denn, und wohin willst du denn mit mir so plötzlich?“, entgegnete sie.

„Ich will dir etwas zeigen, das gar nicht so gefährlich ist, wie es scheint“, und dachte dabei an unsere übergriffige Mutter. 

Ich wünschte mir selbst, unsere Mutter wie den Scheinriesen Turtur aus Jim Knopf sehen zu können. Als eine friedliche, einsame Riesin, die nichts dafür kann, dass sich andere (mein inneres Kind und ich) sich wegen ihrer scheinbaren Größe vor ihr fürchten.

 „Oh“, antwortete sie, „ein bisschen gefährlich ist das aber schon, oder?“

Hatte sie eine Ahnung, wo ich mit ihr hinwollte?

„Nein, nicht wirklich, und außerdem bin ich ja bei dir“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Hahaha, das hast du schon so oft gesagt und mich dann doch wieder im Stich gelassen. Ich glaub dir nicht. Ich will hier bleiben. Hier bin ich wenigstens sicher.“

 

Sie riss sich von meiner Hand, rannte zurück zu ihrem kleinen blau-weiß gestreiften Sofa, nahm ihren Teddy und setzte sich. Ihre grünen Augen funkelten mich wütend an. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie erst einmal zu sich kommen zu lassen, ihr Zeit zu geben. Mit verschränkten Armen und heruntergezogenen Mundwinkeln saß sie dort. Ihre Beinchen wippten auf und ab.

 

Ich startete einen erneuten Versuch: „Hey, es tut mir leid. Ich habe dich gerade ziemlich überfallen. Ich möchte so gern mit dir ein kleines Abenteuer wagen. Ich weiß, dass das schwer für dich ist und du mir nicht wirklich vertraust, bzw. mir auch nicht vertrauen kannst.“

Sie blieb stur. „Ich will nicht. Ich will kein Abenteuer mit dir. Du kümmerst dich nicht um mich. Ich will keine Angst kriegen.“

 

Da stand ich, ziemlich bedröppelt. Sie hatte ja Recht.

Wie konnte ich sie davon überzeugen mitzukommen? Ich spürte eine Enttäuschung in mir aufkommen. Mein kleines Mädchen will mich nicht. Nicht mal eben so, nur weil ich sie will. Irgendwie hatte ich damit nicht gerechnet. Tränen schossen in meine Augen. Ich hatte keine Ahnung wie ich einen Zugang zu ihr aufbauen sollte.

 

„Ich weiß jetzt wirklich nicht, was ich machen soll. Sollen wir unseren Ausflug verschieben?“, schlug ich unsicher vor.

„Ich hab doch gesagt, dass ich hierbleiben will. Du bestimmst einfach über mich. Das ist voll doof. Ich finde dich doof! Hör mir doch endlich mal zu!“

Ihr kleines Gesicht verzerrte sich zu einem wütenden Knautschball.

 

Was für eine Kraft hinter diesen Worten steckte. Das hatte ich ihr nicht zugetraut. Ich schluckte, war erschrocken. Eine Angst kam hoch, erneut die falschen Worte zu sagen.

 

„Das stimmt, ich habe dich nicht gefragt und einfach über dich bestimmt, genau wie unsere Mutter das auch immer gemacht hat. Das geht nicht. Ich weiß, dass du mich anders brauchst. Ich möchte so gerne liebevoller zu dir sein und möchte lernen, wirklich für dich da zu sein.“

 

Ich stockte. Es fiel mir schwer, mich zu öffnen und spürte wie mein Hals eng wurde, er zuschnürte, als ob unsere Mutter ihre Hand drumlegte und mir das Reden verbieten wollte. Es fühlte sich an, als würde ich mir selbst nicht glauben.

 

„Meinst du denn, dass ich dir vielleicht etwas über dich und mich erzählen kann?“, wagte ich einen weiteren Versuch, etwas krächzend.

„Vielleicht“, sagte sie leise.

„Darf ich mich dazu neben dich setzen?“, fragte ich vorsichtig.

Es kam nur ein „Hmm“ als Antwort. Sie starrte vor sich hin.

 

Im Stehen sprach ich weiter:

„Weißt du, mir ist erst in den letzten Wochen so richtig klar geworden, wie lieb ich dich habe. Ich habe nicht gesehen, dass du so ein tolles Mädchen bist, weil ich nicht wirklich zu dir hingeschaut habe. Das war falsch! Ich sehe wie hübsch und intelligent du bist. Und das meine ich wirklich. Du kannst so viele Dinge. Du liest, du schreibst, du strickst, du singst, du bist interessiert an deiner Umwelt. Und was mir besonders an dir gefällt, ist deine leise und liebenswerte Art Menschen zu begegnen. Du bist deinen Freund*innen zugewandt. Und das Tollste an dir ist, dass du alles getan hast, damit wir in unserer Kindheit einen Hauch von Liebe bekommen. Du hast dich für uns aufgeopfert, hast deine Meinung für dich behalten, stillgehalten, dich unsichtbar gemacht. Hast deine Enttäuschung darüber, dass du nicht geliebt wurdest wie dein Bruder, geschluckt und dich in dich zurückgezogen. Unsere Mutter hat dich kleingehalten, dir jeden Selbstwert genommen. Nicht extra. Sie war einfach nicht in der Lage dazu, dir ihre Liebe zu zeigen. Sie liebte unseren Bruder und du durftest ihn auch lieben. Du durftest sie stolz machen. Das war dein Zweck, deine Aufgabe. Du hast alles versucht und dich so angestrengt. Die Liebe, die du brauchtest, konntest du von ihr nicht bekommen. Also hast du für dich den Schluss gezogen, nicht gut genug zu sein, konntest auch wohlgemeinte Sprüche nicht mehr glauben. Du bliebst für dich allein. Ich fühle mit dir, was du durchgemacht hast. Dass du dachtest, du wärest falsch, weil du dich von unseren Eltern genervt fühltest, sie sogar in manchen Momenten hasstest. Du fühltest dich schuldig und schämtest dich. Ich weiß, dass du Hilfe und Umsorgung, wenn du sie am nötigsten brauchtest, nicht bekamst. Das tut so weh, wenn ich daran denke. Ich möchte jetzt für dich da sein. Bitte glaube mir!“

 

Tränen rollten über mein Gesicht. Mein kleines Mädchen schaute mit dem Kopf nach unten.

Weinend sprach ich weiter.

 

„Du glaubst gar nicht wie leid mir das alles tut. Ich habe es nicht eher geschafft, für dich da zu sein. Jetzt möchte ich das. Ich sehe dich, du zartes und liebevolles Wesen. Du berührst mich. Ich fühle mich dir ganz nah und ich hoffe so sehr, dass du mir eine Chance gibst. Ich kann verstehen, dass du mich komplett doof findest, vor allem wenn ich mich wie unsere Mutter verhalte.“

 

Ich stöhnte auf. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ein Schmerz fiel über mich, ein alter Schmerz, der häufig wie ein Messer auf mich einsticht und mich blind zurücklässt, als stünde ich im Nebel. Ich konnte nicht anders und fing an zu schluchzen. Die Schluchzer durchrüttelten meinen Körper. Warmer Nasenschleim rann aus meiner Nase.

Ich hatte mich getraut, mich meinem kleinen Mädchen ehrlich zu zeigen.

 

Plötzlich spürte ich eine kleine warme Hand auf meiner. Ich hielt für einen Moment die Luft an. Dieses warme Gefühl, diese feinfühlige Annäherung, so unglaublich, so schön. Langsam bewegte sie ihre Hand auf meinem Handrücken hin und her. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Ich traute mich kaum zu atmen. „Kannst du zu mir kommen“, hörte ich eine leise zarte Stimme, „und mich in deinen Arm nehmen? Mich festhalten?“

Überwältigt von meinen Gefühlen setzte ich mich auf ihr kleines Sofa und zog sie vorsichtig an mich. Sie ließ es geschehen, wehrte sich nicht. Ich streichelte sanft über ihr Haar. Es fühlte sich weich an, wie zarte Blütenblätter. Wir weinten gemeinsam und sagten beide nichts, verharrten in der Stille, nah beieinander in diesem magischen Moment, der wie ein Sternschnuppenregen auf uns herabfiel. Ich fühlte eine nie zuvor dagewesene Liebe, Wärme, Zugewandtheit. Mein Herz öffnete sich. Mein Kleine und ich wurden eins und ich wünschte mir, dass dieser Moment nie endete.  

 

Beseelt sprach ich weiter: „Bitte meine Kleine, lass mich dir zeigen, dass ich wirklich für dich da sein möchte. Du bist das zauberhafteste Wesen, das ich kenne. Wir beide können doch nur zusammen glücklich sein. Ich habe erkannt, dass ich zu dir nicht übergriffig sein darf. Das war die erwachsene, nicht liebevolle Frau in mir, mein EGO, das sich, weil ich noch nicht bewusster bin, den Raum nimmt. Bitte verzeihe mir dieses Verhalten.“

 

Mein kleines Mädchen schaute mich still mit offenen Augen an.

 

„Es ist möglich, dass ich mein blödes Verhalten wiederholen werde. Nicht weil ich das möchte, sondern einfach, weil ich es noch nicht besser kann“, wandte ich ein.

Sie flüsterte: „Ich habe Angst davor.“

„Ja, das glaube ich dir, wovor genau?“, fragte ich.

„Vor dir, dass du nicht bei mir bleibst, dass du mich nicht beschützt, dass du mich zu wenig tröstest, dass du vergisst mit mir zu reden, dass du mich nicht fragst, was ich brauche, dass du mir zu wenig Liebe gibst und dass du einfach so weitermachst wie bisher, als gäbe es mich nicht.“

 

Das saß. Sie brachte es auf den Punkt. Ich spürte die Weisheit dieses kleinen Wesens, ihre Unschuld, ihr wahres liebevolles Sein. Unglaublich, dieses Mädchen, und doch ein Teil, wenn nicht der wichtigste Teil, von mir. Immer noch hielt ich sie eng an mich gedrückt.

Meine einzige Chance, ihr diese berechtigte Angst zu nehmen, war, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und Vertrauen konnte ich nur gewinnen, indem ich sie nicht mehr enttäuschte. Das war mir klar und machte mich gleichzeitig hilflos.

Im Laufe der Jahre hatte ich viel Wissen auf meinem Heilungsweg angehäuft und die wesentlichsten Dinge fielen mir schwer, dauerhaft für mein kleines Mädchen da zu sein.

Ich wusste, würde ich Verbundenheit zu ihr finden, würde ich auch meine Herzensverbundenheit, das was mich ausmacht, meine Lebensaufgabe, meine Authentizität finden. Wie sehr hatte ich das gerade gespürt.

 

„Ich verstehe deine Angst. Die hätte ich auch, wenn ich du wäre. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist: Ich bleibe bei dir. Du bist mein Leben. Das habe ich gerade so intensiv gefühlt. Nichts anderes wünsche ich mir. Vielleicht kann das deine Angst verkleinern.“

Sie nickte. „Und mein Teddy soll auch bei dir bleiben!“

„Gerne“, antwortete ich und freute mich über ihre kindliche Zuwendung.

„Kannst du mir jetzt eine Geschichte erzählen?“ Sie schaute erwartungsvoll zu mir hoch.

Wie klar sie wusste, was sie wollte.

„Oh ja, das mache ich und es kann gut sein, dass ich dir mehrere Geschichten erzählen werde“, lächelte ich sie an.

 

Ich hatte fest vor, ihr Vertrauen zu erobern.Vielleicht würde sie irgendwann auch ein Abenteuer mit mir wagen.

Ich nahm mir fest vor, viel gemeinsame Zeit mit ihr zu verbringen, ihr meine Liebe und Zuwendung täglich zu offenbaren.

 

In dem Wissen, dass das die einzige Möglichkeit ist, um weitere magische Momente mit ihr erleben zu können.

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Kommentare: 1
  • #1

    Frank (Dienstag, 20 September 2022 13:23)

    Deine Geschichte, die du deinem kleinen Mädchen erzählst, berührt mich sehr. Ich möchte euch am liebsten in den Arm nehmen und trösten…