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Wenn Nebel deiner Seele Anschub gibt

Die Luft war eiskalt. Kalt war es auch in mir. Das Blut in meinem Körper zirkulierte unregelmäßig. Es stolperte in mir, partiell festgefroren.

Ich stand an der geöffneten Balkontür. Nebel stieg aus den Feldern empor. Ich hatte den Weg bis hierher geschafft, heraus aus der mich erdrückenden Wärme der schweren Bettdecke. Heraus aus den kreisenden dunklen Gedanken. Ich schaute auf den wabernden, undurchsichtigen Nebel. Das Morgenlicht suchte sich seinen Weg. Die Welt da draußen und die Welt hier drinnen.

Was würde ich mit diesem Tag anfangen? Ein weiterer Tag? Ein unnützer Tag. Leere in mir. Dunkelheit in mir, die sich von der aufkommenden Helligkeit nicht beeindrucken ließ. Stumpfsinn. Was erwartete mich auch? Ein vor sich hin plätschernder Alltag, eine unbefriedigende Arbeit am Computer - mehr Verwaltung statt Eigeninitiative, Lärm und Dreck auf der nicht enden wollenden Hochwasserbaustelle, Ärger mit Versicherung und Handwerkern - Stress, ein sich weiter ausbreitendes, am unbeschwerten Leben hinderndes Virus - Ödnis in mir und dem Leben. Gleichförmiges Einerlei.

Ich stöhnte und erschrak gleichzeitig, ob der Laute, die ich von mir gab. Ein unerwartetes Lebenszeichen. Ein Zeichen, was ich nicht gewillt war, zu hören. Lieber wollte ich es überhören, mich mit alldem nicht beschäftigen. Ich spürte, wie ich meiner Seele innerlich die Hände vor die Augen hielt. Mein Magen rebellierte. Galle, die hochkommen wollte. Ich schloss die Augen. Das alles überforderte mich. Selbst ein Blick nach draußen ließ mich nicht zur Ruhe kommen, ließ mich nicht in Ruhe. Es schien, als wollte selbst die Natur etwas von mir. Niemand ließ mich in Ruhe.

Wieder stöhnte ich laut auf und öffnete meine Augen. Ich blickte in den Nebel, der sich begann zu lichten, so als ob die Natur sich ihrer brodelnden unbewussten Gedankenfetzen entledigte. Gedankenfetzen, die sich in Luft auflösten. Ich starrte in den Nebel, hielt für einen Moment den Atem an, meine Augen weit geöffnet. Ich starrte, den Blick weiter auf den Nebel gerichtet. Meine Augen begannen zu brennen, weit aufgerissen, ohne Lidschlag. Ich starrte weiter, stand wie erstarrt, atmete. Das Einzige, was sich bewegte, waren die aufsteigenden Nebelfetzen. Das Brennen in den Augen verstärkte sich. Tränen bildeten sich in den inneren Lidwinkeln, sammelten sich an, bis das Tränenbecken überlief und die Tränen kühl an meinen Wangen herunterliefen. Ich hörte nicht auf, zu starren.

 

Plötzlich, wie aus dem Nichts, löste sich etwas in mir.

Ich ließ schluchzend mein Gesicht in die Hände fallen und sank auf meine Knie. Ein tief liegender Schmerz überrollte und durchschüttelte mich. Ich weinte - unkontrolliert, aus der Tiefe meiner Seele heraus. Schattenwände fielen in sich zusammen. Gesteinsbrocken schlugen in mir auf, warteten darauf, sich vom Wasser umspülen zu lassen und hinwegzugleiten. Der Tränenstrom bahnte sich ungehindert seinen Weg, nahm alles mit. Er floss einfach. Mein Schmerz, mein Druck, meine Last durften fließen.

 

Nach einer Weile ließ der Tränenlauf nach. Ich beruhigte mich langsam und trocknete meine Tränen mit den Ärmeln meiner Strickjacke.

Ich hob meinen Kopf und sah nach draußen. Mittlerweile hatte sich der Nebel verflüchtigt. Erste Sonnenstrahlen zeigten sich zwischen den Wolken. Ich fühlte mich ruhiger, staunte über mich selbst. Was war da mit mir geschehen? So losgelöst von Blockierungen?

Ich erinnerte mich an eine Kerzenmeditation, die ich in einer Yoga-Stunde mitgemacht hatte. Dort starrten wir auch lange mit geweiteten Augen in die Kerzenflamme. Damals fiel es mir schwer, die Augen offenzuhalten und nicht dem Impuls des Zwinkerns nachzugeben. Die Meditation hatte mich eher unter Druck gesetzt.

Doch jetzt war dieser Impuls des Starrens von allein gekommen, ohne jedes Zutun.

 

Der Nebel hatte etwas in mir ausgelöst, etwas in mir entfacht, wie ein zartes Feuer in meiner Seele.

Ich spürte mich wieder. Das Blut floss kribbelnd durch meine Glieder. Ich dehnte, streckte mich und erhob mich schließlich. Ich schaute in die Weite, die der Nebel hinterlassen hatte. Ein erstes Lächeln schlich sich über meine Lippen.

Die Natur hatte mich gefangen genommen, ob ich es wollte oder nicht, und ein leises Feuer in mir, in meinem Herzen , in meiner Seele entfacht.

Ein Feuer, das da ist, egal welche Widrigkeiten im Leben sich auch zeigen mögen.

 

Später, als ich mich an diesen Morgen erinnerte, fiel mir ein, dass Nebel rückwärts gelesen Leben bedeutet.

 

Der Nebel hatte mich ins Leben zurückgeholt.

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